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Sturm und Drang

Völlig unerwartet folgte nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs eine lange Zeit der Prosperität. Es war, als wäre man in Europa endlich für die Entbehrungen der Kriege und Krisen entschädigt worden. Das Durchschnittseinkommen vervierfachte sich innerhalb von nur dreissig Jahren – ein historischer Rekord. Auch weltweit waren die „Trente Glorieuses“, wie man die Boom–periode von 1945 bis 1975 nennt, einzigartig. Sowohl in der planwirtschaftlichen Sowjetunion als auch in den ehemaligen Kolonien Asiens und Afrikas wuchs die Wirtschaft wie nie zuvor. Einzelnen Ländern, namentlich Japan, Südkorea und Taiwan, gelang es sogar, zu den reichen westlichen Industrieländern aufzuschliessen. Mitte der 1970er-Jahre war die Welt eine völlig andere als 1945.

Der steigende Wohlstand war nicht nur eine abstrakte Grösse, sondern förmlich mit den Händen zu greifen. Der durchschnittliche Schweizer Haushalt konnte sich nun ein Radio, einen Kühlschrank und ein Auto leisten. Die meisten Wohnungen hatten endlich eine Zentralheizung und fliessendes Wasser. Die Normalarbeitszeit sank, der Samstag wurde zu einem freien Tag, und zum ersten Mal in der Weltgeschichte konnten nicht nur die Gutsituierten, sondern auch die Angestellten und Arbeiter grössere Ferienreisen unternehmen. Die Gesundheitsversorgung machte atemberaubende Fortschritte, man lebte gesünder und länger. Natürlich gab es auch Probleme. Die Verschmutzung der Umwelt erreichte besorgniserregende Ausmasse. Die Bürokratisierung des Lebens provozierte militante Gegenbewegungen. Der Kalte Krieg entlud sich immer wieder in „heissen“ militärischen Auseinandersetzungen. Aber in wirtschaftlicher Hinsicht war die Periode von 1945 bis 1975 zweifellos eine goldene Ära.

Wie einzigartig die Nachkriegszeit war, wurde den Zeitgenossen erst Mitte der 1970er-Jahre bewusst, als die Weltwirtschaft in eine Rezession glitt und von da an nur noch halb so schnell wuchs. Ende der 1960er-Jahre hatte man noch über die negativen Folgen des Wachstums und die Sinnlosigkeit des Erwerbslebens diskutiert, nun musste man sich wieder mit dem alten Problem der Arbeitslosigkeit auseinandersetzen. In der Schweiz litten freilich nicht alle Branchen unter der Verlangsamung des Wachstums. So kamen die Dienstleistungen insgesamt gut über die Runden, ganz im Gegensatz zur Industrie, wo innerhalb von wenigen Jahren Zehntausende von Arbeitsplätzen verloren gingen. Und innerhalb des Dienstleistungssektors erwies sich die Treuhand- und Revisionsbranche als besonders robust. Von einer Krise in den 1970er-Jahren konnte keine Rede sein. Der Aufwärtstrend ging ungebremst weiter.

Entsprechend vermochte die ATAG zwischen 1955 und 1990 ihren Dienstleistungsertrag von 3,1 auf 325 Millionen Franken zu erhöhen, was einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von 12,6 Prozent entsprach. Durch Diversifizierung und Regionalisierung wuchs das Unternehmen in Dimensionen hinein, die 1945 völlig undenkbar gewesen waren. Die Nachkriegszeit verwandelte die kleine ATAG in ein mittelgrosses Unternehmen mit einem dicht gewobenen inländischen Netz und einer Reihe von internationalen Stützpunkten.

Phönix aus der Asche

Die grosse Expansion begann freilich nicht unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Zunächst musste man mit der neuen Situation klarkommen, die durch die Insolvenz der Basler Handelsbank 1945 entstanden war. Kurzfristig bedeutete dies ja eine Schwächung der Stellung der ATAG, denn alle grossen Konkurrenten, die STG, die Fides und die Schweizerische Revisionsgesellschaft, erhielten weiterhin lukrative Aufträge von ihren Mutterbanken. Mittelfristig hingegen erwies sich der Wegfall der Basler Handelsbank als Vorteil, weil die ATAG von nun an gezwungen war, innovativer und agiler zu werden. Das Unternehmen musste sich neu erfinden, wenn es weiterhin in der ersten Liga mitspielen wollte.

Den Wegfall der Auftragsvermittlung durch das Mutterinstitut kompensierte die ATAG, indem sie sich auf die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) konzentrierte. Grossfirmen als Neukunden zu akquirieren, war in dieser Phase schwierig, weil diese in der Regel das Treuhandinstitut ihrer Hausbank in Anspruch nahmen. Zweitens weitete die ATAG die Angebotspalette aus. Lanciert wurde die neue Strategie Mitte der 1950er-Jahre, als die ATAG die Sparte „Bankgeschäfte aller Art“ zu stärken begann. In der Überzeugung, dass „das Dienstleistungsangebot unseres Konzerns ohne ein eigenes Kreditinstitut nicht vollständig sei“, gründete die ATAG am Sitz in Bern im Jahre 1955 eine eigene Bank als Tochtergesellschaft – die Bank- und Finanzinstitut AG. Rückblickend wurde der Entscheid dadurch begründet, dass so eine Einnahmequelle geschaffen worden sei, die nicht vom Verkauf von Arbeitsstunden abhängig war: „Quand le banquier dort, les intérêts courent.“ Ein Jahr später errichtete die „Bankfinanz“, so die interne Bezeichnung, eine Filiale in Basel, daraufhin eine in Genf und eine in Zürich. Dazu kam der Investitionsfonds Proinvest, der in Immobilien und Aktien investieren sollte und dessen Zertifikate von der „Bankfinanz“ verkauft wurden. Der Verwaltungsrat stellte befriedigt fest, dass die Konkurrenz, die STG, die Fides und die Schweizerische Revisionsgesellschaft, keine ähnlichen Geschäfte durchführen durfte, „weil diese Aufgaben eben ihren Mutter-Gesellschaften – den Grossbanken – reserviert blieben“. Die ATAG befand sich also nicht mehr im Besitz einer Bank, sondern besass nun eine eigene.

Bald folgte ein zweiter Diversifizierungsschritt, diesmal im Bereich der Unternehmensberatung. Natürlich hatte die „Beratung in Organisationsfragen“ seit längerer Zeit zum Angebot gehört. Gleichwohl galt sie nicht als eigenständiger Zweig, sondern befand sich gleichsam im Seitenwagen der Revision. Nun aber, da die boomende Wirtschaft die Nachfrage nach Rationalisierung und Automatisierung antrieb, sah die ATAG den Moment gekommen, die Unternehmensberatung als eigenständigen Pfeiler in grossem Stil auszubauen und aufzuwerten. Um neue Aufträge zu generieren, stellte man die Datenverarbeitung in den Vordergrund. Bereits 1960 wurde dem Sitz in Bern eine Lochkartenabteilung angeschlossen. Kurt Feller, der spätere CEO und Verwaltungsratspräsident der Rieter Holding AG, arbeitete nach Abschluss des Gymnasiums bei der ATAG Bern als Assistent in diesem Bereich. „Die Lochkarten mussten mit Sortier- und Mischmaschinen verarbeitet und mit dem Tabulator (Drucker) in visuelle Form gebracht werden“, erinnert sich Feller, der zusammen mit fünf anderen Personen unter Vizedirektor René Schärlig in diesem Zentrum tätig war.

Da sich die Datenverarbeitung arbeitsintensiv gestaltete und teure Maschinen benötigt wurden, liessen vor allem kleinere Unternehmen ihre Daten extern verarbeiten. Bald waren die Lochkartenmaschinen des Sitzes Bern ausgelastet, weshalb man nun auf elektronische Datenverarbeitung (EDV) setzte. Nach der Gründung der Teledata AG 1963 hatte man „eines der modernsten Rechenzentren der Schweiz“, wie im Verwaltungsrat vermerkt wurde. Die Teledata war allerdings kommerziell kein Erfolg. Deshalb wurde sie 1975 mit der Interdata zusammengelegt, einem Rechenzentrum, an dem mehrheitlich der Zement- und Baustoffkonzern Holderbank beteiligt war. Mit dem Zusammenschluss entstand das grösste unabhängige Rechenzentrum der Schweiz. 1981 schliesslich übernahm die ATAG sämtliche Anteilscheine von Holderbank und wurde somit Alleinaktionärin der Interdata. Neben Bankgeschäft und Datenverarbeitung erschloss man weitere Felder. 1963 stieg die ATAG mit der Tutor AG in die Versicherungsberatung ein, Anfang der 1970er-Jahre baute sie die Liegenschaftsverwaltung auf. Mit der 1963 gegründeten Tochter für Werbeberatung und Public Relations betrat sie ein vollkommen fremdes Fachgebiet. Nur wenige Jahre später wurde der neue Zweig aber wieder verkauft, da sich die Gesellschaft nicht in erwartetem Umfang entwickelte. Die PR-Beratung wurde aber 1979 wieder aufgenommen und bis in die 1990er-Jahre erhalten.

Die rasante Diversifizierung erhöhte nicht nur Umsatz und Mitarbeiterzahl, sondern ermöglichte auch einen anderen Auftritt am Markt. 1969 begann die ATAG, auf das Konzept der „integrierten Unternehmensberatung“ zu setzen. Eine interne Marktuntersuchung hatte gezeigt, dass Unternehmen vermehrt an Beratung durch kombinierte und koordinierte Spezialistenteams anstelle von einzelnen Dienstleistungen interessiert waren. Die Idee war, dass Revisoren die Kunden nicht nur prüften, sondern verstärkt als eigentliche Wirtschaftsberater auftraten, was entsprechende Schulung im Bereich Management und EDV verlangte. Somit konsolidierte man die immer breiter gewordene Angebotspalette in einer neuen Dienstleistung.

Auch geografisch breitete das Unternehmen seine Flügel aus. 1960 gründete die ATAG gemeinsam mit der amerikanischen Revisionsgesellschaft Arthur Young & Co. ein Unternehmen, welches die Revision amerikanischer Tochtergesellschaften in der Schweiz besorgen sollte. Die Firma, an der die ATAG zu 50 Prozent beteiligt war, hiess Arthur Young & Company AG. Sie war Teil einer Strategie der 1894 gegründeten amerikanischen Accounting Firm, ihren Kunden im Nachkriegsboom nach Europa zu folgen. Die ATAG stellte das Personal und erhielt im Gegenzug viele Aufträge für Revision und Beratung bei Tochterfirmen der Kunden von Arthur Young & Co. 1964 trat man dann dem internationalen Verbund Arthur Young & Co. International bei. Gleichzeitig errichtete die ATAG eigene Gesellschaften im Ausland. 1962 entstand die Fiduciaria Italo-Svizzera S.p.A. (FIS) in Mailand, und die für Unternehmensberatung im Ausland gegründete ATOR unterhielt bald Filialen in Stuttgart, Essen, Mailand, Düsseldorf und Barcelona. 1973 beteiligte man sich an der französischen Revisionsgesellschaft STRECO mit Sitz in Paris und später auch in Lyon. Die Erweiterung der Gesellschaft erforderte Platz. In den Fünfzigerjahren wurde mit einem Büro in Biel (1957) und den Sitzen Lausanne (1957) und Genf (1959) die Westschweiz erschlossen. Ausserdem errichtete man an den wichtigsten Orten Neubauten. Am Sitz in Bern, welcher Ende der 1950er-Jahre fast doppelt so viel Personal beschäftigte wie der Hauptsitz, war die ATAG auf vier Lokalitäten verteilt, was mit einem neuen Gebäude an der Schauplatzgasse 19 und 21 geändert wurde. Am Basler Aeschengraben 7–11 entstand 1964 auf drei Parzellen ein Neubau, in welchem auch die „Bankfinanz“ einquartiert wurde. Wenige Jahre danach baute man am Bleicherweg 21 in Zürich das mächtige „ATAG-Haus“ und in Genf an der Rue d’Italie ein weiteres Bürogebäude. Man expandierte nicht still und leise, sondern markierte Präsenz.

Wachablösung

Die Diversifizierungsstrategie ging einher mit einem Wechsel an der Spitze der ATAG. 1958 trat Hans Müller die Nachfolge Manfred Hoesslys als Präsident der ATAG an. Gleichzeitig amtete er als Vorsitzender einer neu geschaffenen Zentraldirektion. In dieser sassen ausserdem die Herren Hugo Aeberhard, Ernst Eggenschwiler, Emil Vogt, Willy Müller, Dr. Roger Voumard, Michael Hoessli, Prof. Dr. Rudolf Probst und Otto Germann. Neu im Verwaltungsrat sass seit 1955 auch Dr. Otto Zipfel, ehemals Delegierter des Bundesrates für Arbeitsbeschaffung und Mitglied der „Studienkommission für die allfällige Beschaffung eigener Atomwaffen“. Ebenso wurden die Zentraldirektoren Probst und Germann in den Verwaltungsrat gewählt. Dies hatte damit zu tun, dass Hans Müller, kaum ein Jahr im Amt, bereits seine Nachfolge regelte. Im Verwaltungsrat erklärte er, er wolle bis 1967, zum 50-Jahre-Jubiläum, an der Spitze der Gesellschaft stehen und danach den Posten an Rudolf Probst übergeben, den er als „am qualifiziertesten“ für diese Aufgabe bezeichnete.

Mit dem Übergang der Führung von Manfred Hoessly auf Hans Müller verpasste sich die ATAG ein neues Auftreten. Erstmals liess man mittels Wettbewerb ein Firmenlogo designen. Gleichzeitig fing man an, die mehrheitliche finanzielle Selbstbestimmung als Verkaufsargument zu nutzen. Ab 1960 stand unter dem neuen Firmensignet in den Geschäftsberichten geschrieben: „Die Allgemeine Treuhand AG vereinigt Fachleute der Wirtschaftsberatung: Bücherexperten, Steuerberater, Juristen, Betriebswirtschafter, Betriebsingenieure und andere Spezialisten. Die Aktienmehrheit gehört einer Stiftung, welche die Wohlfahrt des Personals zum Zwecke hat. Die Gesellschaft ist daher vollständig unabhängig.“ 1964 übergab Hans Müller wie geplant das Amt des Delegierten an Prof. Dr. Rudolf Probst. Drei Jahre später übernahm dieser auch das Verwaltungsratspräsidium. Probst war habilitierter Jurist, Präsident der Käseunion, Rotarier und Oberst in der Schweizer Armee. 1945 war er als Vizedirektor an den Sitz in Bern gekommen. Nun, da er die operative Leitung übernahm, hatte die ATAG bereits eine stattliche Anzahl Tochtergesellschaften, sodass der Verwaltungsrat auf Probsts Anregung eine Konzernleitung einrichtete. Als Holding der Tochtergesellschaften diente hauptsächlich die „Gesellschaft für Finanzierungen und Beteiligungen“, über die man seit 1922 die treuhänderische Vermögensverwaltung abgewickelt hatte.

Mit Diversifizierung und Internationalisierung rückte bei der ATAG die Personalpolitik ins Zentrum. Im Nachkriegswachstum war es nicht einfach, genügend geeignete Mitarbeiter zu finden. Im seit 1970 mehrmals pro Jahr erscheinenden firmeninternen Magazin „ATAG-Bulletin“ witzelte ein unbekannter Autor, es gehe der ATAG bald wie einem Wirt, der in seiner Gaststube ein Plakat aufhänge mit der Inschrift: „Seien Sie nett zum Personal, Gäste haben wir genug.“ Diesem Problem begegnete die Unternehmensführung mit zwei Massnahmenpaketen. Einerseits wollte man gute Mitarbeitende anziehen und behalten, indem man die Fürsorgeinstitutionen stärkte. 1966 wurde eine eigene Pensionskasse mit besseren Leistungen als jene der BHB geschaffen. Zu Ehren des abgetretenen Präsidenten Müller rief die Gesellschaft den Hans Müller-Fonds ins Leben, welcher die berufliche Förderung der ATAG-Mitarbeiter zum Zweck hatte. Hier hakte die zweite Massnahme ein: Die ATAG entwickelte sich zum Ausbildungsunternehmen. 1962 wurde ein erstes Mal ein internationales Arthur Young-Seminar abgehalten, an dem sich eine grosse Zahl von ATAG-Mitarbeitern beteiligte. Im selben Jahr folgte der erste ATAG-interne Revisorenkurs, geleitet von Michael Hoessli. Daneben wurde ab 1964 unter dem Patronat der Treuhand- und Revisorenkammer eine Revisorenschule geführt, mit dem Ziel, die Revisoren auf die Diplomprüfung vorzubereiten. Um junge Leute für den Beruf des Prüfers zu begeistern, hatte man schon 1963 Werbeprospekte über die Tätigkeit des Bücherexperten an Hochschulen verteilt. Anfang der 1970er-Jahre entstand dann ein Schulungskonzept, um „überdurchschnittliche Spezialisten, Generalisten und Führungskräfte“ heranzubilden. Seit 1969 wurden ausserdem jährlich Kaderkonferenzen durchgeführt.

1974 trat Rudolf Probst als Delegierter des Verwaltungsrats zurück. Sein Nachfolger war Dr. Peider Mengiardi. Der Jurist hatte 1961 als Prokurist am Sitz in Bern begonnen und war 1968 mit dem Auftrag, die Rechtsabteilung am Hauptsitz zu reorganisieren, nach Basel übergetreten. Seit 1972 war er Mitglied der Generaldirektion. Vor seiner Wahl zum Delegierten lehrte er als Privatdozent an der Universität Bern, ab 1976 war er im Vorstand des schweizerischen Juristenvereins. Die Zentraldirektion bestand neben Mengiardi mittlerweile aus Max Attenhofer, Fritz Christen, Karl Müller, Hans Weiss und Dr. Peter Welti. Probst trat 1979 altershalber auch vom Präsidentenamt zurück und Mengiardi rückte nach. Wie sein Vorgänger präsidierte Mengiardi auch die Dr. Manfred Hoessly-Stiftung. Im Verwaltungsrat sassen neben Mengiardi Roger Voumard, Hans Welti, Dr. Leonhard Gysin, Maître Jean-Claude Jacquemond, Willi Löliger, Prof. Dr. Walter Winkler, Dr. Ernst Höhn, Fritz Christen und Karl Müller.

„Alles aus einer Hand“

Breites Dienstleistungsangebot und integrierte Beratung trugen den Anforderungen der Kunden Rechnung. Aus Sicht eines Unternehmens war es wünschenswert, neben der Buchprüfung auch andere Dienste von Treuhandgesellschaften in Anspruch zu nehmen. Die ATAG bot den Kunden ein umfassendes One-Stop-Angebot. Es galt der Wahlspruch: „Alles aus einer Hand.“

Beispielhaft zeigte sich dies an ihrem Verhältnis zur Firma Kühne + Nagel. Als Steuerberater von Alfred Kühne, Sohn des Firmengründers August, hatte Peider Mengiardi geholfen, den Firmensitz des internationalen Logistikunternehmens Mitte der Siebzigerjahre nach Pfäffikon (Schwyz) zu verlegen. Kühne war pessimistisch, was die politische Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland anbelangte. Ausserdem schätzte er die Schweiz als Hort der Stabilität und verbrachte regelmässig seine Ferien in der Bündner Gemeinde Lenzerheide, wo er in Kontakt mit Mengiardi kam. Zusammen mit Alfreds Sohn Klaus-Michael Kühne, der in den Sechzigerjahren das Zepter übernahm, fuhr Mengiardi mit dem Auto quer durch die Schweiz, um geeignete Standorte und kooperative Behörden zu finden. Nach der Ansiedlung in der Schweiz übernahm die ATAG bei Kühne + Nagel das Kontrollstellmandat und vertiefte die Zusammenarbeit. Klaus-Michael Kühne erinnert sich: „Die ATAG bot uns von Anfang an auch ihre Beratungsdienste an. Sie half uns bei der Erteilung von Arbeitsbewilligungen und der Personalvermittlung, unterstützte uns bei der Steueroptimierung und trug zur Lösung komplexer Fragen des Rechnungswesens und der internen Revision bei.“ Ausserdem sass Peider Mengiardi bei Kühne + Nagel im Verwaltungsrat und wirkte beim Aufbau einer von der Kühne-Familie getragenen gemeinnützigen Stiftung mit. Revisionsstelle und Unternehmen unterhielten damals eine enge und umfassende Beziehung, wie man sie sich heute nicht mehr vorstellen kann.

Ein solcher Rundum-Service war auch für die ATAG sehr lukrativ. In der Zentraldirektion aber vermutete man, dass die bevorstehende Aktienrechtsreform – seit 1972 war eine Arbeitsgruppe mit der Ausarbeitung von Erneuerungsvorschlägen beschäftigt – die Vereinbarkeit von Revision, Mitgliedschaft im Verwaltungsrat und Durchführung der Buchhaltung bei ein und demselben Kunden nicht mehr zulassen würde, da so theoretisch das unabhängige Urteil des Revisors beeinträchtigt werden konnte.

Bei der Bankenprüfung hatte die gesetzliche Regelung bereits eine engere Auslegung erfahren. Zum Umstand, dass prüfende Gesellschaften keine Bankgeschäfte unterhalten durften, kam neu dazu, dass Revisionsgesellschaften von den zu revidierenden Firmen finanziell unabhängig sein mussten. Wegen dieser Änderung gewann die ATAG die erste Grossbank als Prüfungskunde. Die Schweizerische Bankgesellschaft (SBG) beschäftigte bis dato ihre Tochterfirma, die Schweizerische Revisionsgesellschaft (Revisuisse), als ­Revisionsstelle. Da nun die Eidgenössische Bankenkommission (EBK) diese finanzielle Nähe zwischen Prüfer und Geprüftem nicht mehr tolerierte, übertrug die SBG den Auftrag an die ATAG-Gesellschaft Koreag. Das Mandat brachte über eine Million Franken ein und beschäftigte gut  30 Leute über drei Monate hinweg. Peider ­Mengiardi sprach von einer „neuen Phase in der Ausübung von bankengesetzlichen Revisionen“.

Die finanzielle Eigenständigkeit hatte also gegenüber der Mandatszuteilung durch eine Grossbank durchaus Vorteile. Dies be- tonte man auch im Geschäftsbericht von 1975: „Die Tatsache, dass uns […] verschiedene grössere Mandate übertragen worden sind, was ohne unsere Unabhängigkeit [( kursiv im Original)] kaum denkbar gewesen wäre, hat uns die Genugtuung verschafft, dass die Bedeutung einer wirklich unabhängigen grossen Revisions- und Beratungsgesellschaft in immer weiteren Wirtschaftskreisen erkannt und anerkannt wird.“ Grossfirmen, die mit Banken verbunden waren, gaben ihre Aufträge aber nach wie vor meist an die Konkurrenz. Die mittleren Unternehmen stellten eindeutig das wichtigste Kundensegment für die ATAG dar.

Die Stärkung der Bankenrevision warf allerdings die Frage auf, wie man zum eigenen Kreditinstitut stand. Die Bank- und Finanzinstitut AG hatte bis Anfang der 1970er-Jahre gut rentiert. Seit Beginn der wirtschaftlichen Rezession, welche die ATAG als Ganzes kaum zu spüren bekam, aber verschlechterte sich die Ertragslage. Die Einnahmen aus dem Zinsgeschäft waren zurückgegangen, der Sitz Zürich schrieb zwischenzeitlich Verluste. Ende der Siebzigerjahre beschloss der Verwaltungsrat, sich von der Bank, die 1978 eine Bilanzsumme von 171 Millionen Franken auswies und gut hundert Leute beschäftigte, zu trennen. Entscheidend für die geplante Veräusserung war, dass die Bank im Verhältnis zum Umsatz einen zu grossen Apparat unterhielt und ausserdem personelle Mängel verortet wurden. Auch fragte man sich gut zwanzig Jahre nach der Gründung der „Bankfinanz“ schlicht, wieso die ATAG überhaupt eine Bank besass. Auf die Frage des Verwaltungsratsmitgliedes Dr. Winkler, ob es denn heute noch Gründe dafür gebe, antwortete Mengiardi, in seinen Augen sei die Bank von Anfang an ein Fremdkörper gewesen. Tatsächlich machte es wenig Sinn, die hauseigene Vermögensverwaltung mit einer Tochterbank zu konkurrieren. So veräusserte die ATAG die „Bankfinanz“ ab 1979 schrittweise an das damals zweitgrösste niederländische Kreditinstitut, die Amro Bank.

Die lukrative Vermögensverwaltung innerhalb der ATAG liess man weiter bestehen. 1977 legte man sich aber interne Verhaltensregeln auf. Vorangegangen war der „Chiasso-Skandal“: Direktoren einer Filiale der Schweizerischen Kreditanstalt in Chiasso verspekulierten sich mit über zwei Milliarden Franken ausländischen Kundengeldern, die sie am Fiskus vorbei in liechtensteinische Gesellschaften transferiert hatten. Bei der ATAG war eine solche „aktive Mitwirkung bei Vorkehren zur Umgehung oder Hinterziehung in- oder ausländischer Steuern“, wie sie bis anhin über juristische Personen im Fürstentum Liechtenstein praktiziert worden war, von nun an tabu.

„Freie Politik“ dank Paul Sacher

Gleichzeitig zum Verkauf der „Bankfinanz“ stand eine grössere Investition an. Das Management der IHA Holding, einer Dachgesellschaft mehrerer Marktforschungsunternehmen, hatte die Zusammenarbeit mit der ATAG gesucht. „Es handelt sich dabei um ein glänzendes und seriöses Institut“, berichtete ATAG-Verwaltungsrat Dr. Gysin, der die IHA aus anderen Geschäftsbeziehungen kannte. Diesen Eindruck hatte auch die Zentraldirektion, und so beteiligte sich die ATAG 1979 an der IHA-Gruppe in Hergiswil. Der Kaufpreis von 5,4 Millionen Franken liess sich mit dem aus dem Bankverkauf realisierten Gewinn (6,5 Millionen) mehr als aufwiegen.

Wenige Jahre nach der Beteiligung an der IHA-Gruppe wurde das vielfältige Dienstleistungsangebot der ATAG in drei thematische Hauptteile gegliedert: Wirtschaftsprüfung, Wirtschaftsberatung und Wirtschaftsinformation. Zur Wirtschaftsprüfung gehörten Revision und finanzwirtschaftliche Beratung. Im Bereich Wirtschaftsberatung wurden Steuer- und Rechtsberatung, Verwaltung und Rechnungswesen für Dritte, Liegenschaftsverwaltung, Vermögensverwaltung, Personalvorsorgeberatung, Führung von Sekretariaten sowie die 1986 gegründete Abteilung für Mergers & Acquisitions (Fusionen und Übernahmen) ebenso zusammengefasst wie die eigentliche Unternehmensberatung. Zur Wirtschaftsinformation gehörten die Informatikdienstleistungen der Interdata und die Marktforschung der IHA-Holding, später kamen weitere Beteiligungen dazu. Am Umsatz gemessen waren diese drei Standbeine der ATAG-Gruppe bis Mitte der 1990er-Jahre etwa gleich gross.

Defizite verortete die Zentraldirektion zu Beginn der 1980er-Jahre in der regionalen Präsenz. Zwar war man in Basel, Bern, Zürich und zunehmend in der Westschweiz gut etabliert, in der Ost- und Zentralschweiz aber „praktisch noch unbekannt“. Nun sollten einerseits die kleinen Sitze – mittlerweile waren Fribourg (1977) und Neuchâtel (1978) dazugekommen – gestärkt werden. Andererseits wollte man gut geführte kleine Treuhandgesellschaften in den Regionen aufkaufen und in die ATAG integrieren. Beim Kauf von Beratungsgesellschaften hatte die ATAG wegen ihrer Unabhängigkeit einen Vorteil. Diesen wollte man rasch nutzen, denn in der Zentraldirektion ging man davon aus, dass auch die STG, die Fides und die Revisuisse früher oder später einen Management-Buy-out tätigen würden. So errichtete die ATAG ab 1982 Zweigstellen in St. Gallen, Solothurn, Chur, Winterthur, Sion, Kreuzlingen, Brig, Luzern, Herisau, Zug, Buchs, Lugano, La Chaux-de-Fonds und Ascona. 1994 hatte sie schweizweit 23 Sitze und unterhielt zahlreiche kleine Treuhandbüros als Tochtergesellschaften. Dass nicht alle Gesellschaften den Namen ATAG trugen, hing damit zusammen, dass man bestehende Kundenkontakte nicht verlieren wollte. Die Präsenz in der Westschweiz war 1982 durch den Zusammenschluss mit der Société Fiduciaire Lémano, die gut 60 Mitarbeitende zählte, besonders verstärkt worden.

Schliesslich ergab sich Ende der 1970er-Jahre die Möglichkeit, sämtliche Aktien der ATAG zu erwerben. Paul Sacher, der nach wie vor im Besitz von gut einem Drittel der ATAG-Aktien war, übertrug diese 1976 in eine Stiftung. Mengiardi und Sacher einigten sich darauf, dass Mengiardi einen Sitz im Stiftungsrat der Paul-Sacher-Stiftung erhielt und so einen Überblick darüber hatte, was mit dem Vermögen der Stiftung geschah. 1980 wollte Sacher die ATAG-Aktien verkaufen, denn die Stiftung benötigte Mittel für den Bau einer Liegenschaft, und Sacher fragte Mengiardi, ob die ATAG ihre eigenen Aktien kaufen wolle. In der Zentral­direktion und im Verwaltungsrat war man sich schnell einig, dass dies eine einmalige Gelegenheit sei, den vollen Zugang zur Gewinnausschüttung und 100 Prozent der Aktionärsstimmen zu sichern. So erwarb die Dr. Manfred Hoessly-Stiftung per 1.1.1981 943 Aktien der ATAG zu einem Preis von 11’326’000 Franken und verfügte nun über 98 Prozent der Anteilscheine. Die übrigen Aktien konnten binnen Jahresfrist von Mitarbeitern und Drittaktionären erworben werden. „Von da an”, so Peider Mengiardi im Gespräch, „konnten wir freie Politik machen.” Dies bedeutete auch, dass man die Mitarbeiter der ATAG stärker am Gewinn des Unternehmens beteiligen konnte.